Projects and Footnotes, Skeptische Rekonstruktionen, 2006

Das Frontispiz der vorliegenden Rückschau auf das Werk von Doris Frohnapfel ab 1996 ist eine Aufnahme vom Entree der Villa Wittgenstein in Wien, die der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein 1925/26 für seine Schwester entworfen hat: Die Decke ziert eine Lampe in Form einer einfachen Glühbirne. Ohne weiteren Zierrat, der von ihrer Aufgabe ablenken könnte, ist diese schlichte Birne Quelle des Lichts und damit im metaphorischen Sinn auch der Erkenntnis, reduziert auf das Wesentliche, von derselben Klarheit im Dienst ihrer Funktion, wie sie Wittgenstein der Logik der Sprache in seinem „Tractatus logico-philosophicus“ nachzuweisen suchte: die vollkommene Identität von Bild und Begriff. Nach demselben Prinzip betitelt Frohnapfel die retrospektive Dokumentation:„Projekte und Fußnoten“, und erfasst damit sowohl den Inhalt als auch das analog gestaltete Layout der Publikation. Oben auf deren Seiten finden sich Beispiele aus der jeweiligen Werkserie, darunter Abbildungen der damit zusammenhängenden Veröffentlichungen, Installationsansichten, Ausstellungsfotos und Erläuterungen. Das Bild in seiner vermeintlich eigenständigen Aussagekraft wird ergänzt – oder relativiert durch die Marginalien: das Mitgewusste, bzw. „Mitzuwissende“, das Assoziierte, die Konnotationen. Einerseits nimmt die Künstlerin hier überlieferte Darstellungsformen auf, wie die Grotesken in der Wandmalerei der Renaissance oder die Randerzählungen von Heiligenlegenden auf einer mittelalterlichen Retabel. Andererseits betreibt sie ein formales Spiel mit dem „Objektivitätscharakter“ ihrer Fotoarbeiten, im Geiste der französischen ““Spurensicherung“ der 70erJahre, das nebenbei den Wahrheitsgehalt solcher vor allem aus wissenschaftlichen Kontexten geläufigen Darstellungsweisen subtil hinterfragt. Eine museale Präsentation, als wäre das, was wir da gezeigt bekommen, schon eine Erklärung.

„Matter of fact“ – „Tatsachen“ – ist der entsprechend fragwürdige und doppeldeutige Titel einer Fotoserie von 1995, die diverse Orte wiedergibt, an denen Menschen unter tragischen Umständen zu Tode gekommen sind, selbst gewählt oder fremd verschuldet. Doch was sagen diese Aufnahmen aus, wie viel erzählen sie von dem dramatischen Ereignis, das sich hier zugetragen hat? Und generell: Welchen Wahrheitsgehalt besitzen Bilder? „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ und mehr noch als ein Gemälde gilt ein Foto als unbestechliches Zeugnis des Moments. Doch sein objektiver Informationsgehalt ist trügerisch: Es ist immer Interpretation eines „Soseins“, manipuliert durch den Fotografen wie den individuellen Betrachter. In Analogie zu dieser Fragwürdigkeit des bildnerischen Objektivitätsanspruchs verwirft Wittgenstein in seinem Spätwerk, den „Philosophischen Untersuchungen“, das Ideal der Exaktheit der Sprache: Worte sind mehrdeutig und vage, die Bedeutung eines Wortes lässt sich nicht durch Logik herausfinden, sondern nur dadurch, das man erkennt, in welchem Sinn es im alltäglichen „Sprachspiel“ verwendet wird. Fotos von noch so dokumentarischem Anmutung geben keine Antworten, sie sind eher Fragen als Aussagen. Wir sind bei ihrem Anblick doch immer wieder auf uns selbst zurück geworfen und so wie die Künstlerin selbst sich durch ihren subjektiven Zugriff mittels des „Objektives“ dem Begreifen annähert, sind wir angesichts der Bilder zur Er-Innerung, zum Ge-Denken animiert. In Betrachtung der Schauplätze des Todes spult sich unsere Vorstellung vom Leben der jeweiligen Person quasi im „Rewind“ ab. Die Retrospektive vollzieht sich fast zwangsläufig, so wie wir im Moment, wenn das Unfassbare so „klack klack“ geschehen ist – der Unfall, der Zufall – dazu tendieren, rückblickend die Abläufe zu rekonstruieren, sie in Gedanken zu manipulieren, im Wunsch, das Geschehene ungeschehen zu machen, in der verzweifelten Allmachtsphantasie: alles hätte ganz anders kommen können, wenn ich (nicht)…

Orte sind Speicher der Geschichte und Geschichte ist die Summe aller Geschichten: Die älteren Fotografien Frohnapfels sind alle schwarzweiß, was ihren Dokumentcharakter verstärkt. Und so stellen wir uns die Vergangenheit vor, vermittelt durch die Filme und Alben unserer Eltern: Diese schwarzweißen Zeiten scheinen entrückter als die präsenten, bunten; wir können sie vermeintlich besser beur-teilen, in ihre guten und schlechten Komponenten separieren, als die vielfarbige Gegenwart in ihrer Komplexität. In den jüngeren Farbfotografien von Doris Frohnapfel rückt das Geschehen näher, das individuelle Schicksal hat trotzdem auch hier immer etwas Exemplarisches, gemeint ist nicht der Einzelne. Die Aufnahmen der Künstlerin sind auf der Grenze von Dokumentation eines realen Ortes oder existierender Personen und einer fotografischen Abstraktion angesiedelt, doch steht die Ästhetisierung des Vorgefundenen im Hintergrund. Ob in Fotografien, plastischen Arbeiten oder Videofilmen: Doris Frohnapfel versucht eine Rekonstruktion der Vergangenheit, spürt Sedimente der Geschichte auf, betreibt eine Archäologie der Gesellschaft und beschreibt die andere Seite der Dinge, ohne sie explizit zu zeigen. Während ihres Aufenthaltes in Norwegen zwischen 1998 und 2005 fotografiert sie Herdla, einen alten Naziflughafen in der Nähe von Bergen, und Skjolden, wo sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Wittgenstein jene Hütte in unwegsamem Gelände mit Blick auf den Sjognefjord bauen ließ, in der er mittels der Logik seine Zweifel zu bekämpfen suchte und die die Künstlerin aus den Fundamenten rekonstruiert. Sie durchstreift die „Cites Banlieues“ in Brüssel, „La Cité moderne“ von 1922 und „La Cité modèle“ von 1958, gebaute Stadtutopien und Spiegel der zeitgenössischen Gesellschaftsentwürfe mit grundsätzlich ähnlichen Ziele, die vollkommen konträre Unsetzungen zeitigten. Die Idylle des geordneten Alltags in der spanischen Enklave „Septem Seuta“, im Nordwesten Afrikas, trügt vor dem Hintergrund, dass diese Region jüngst für traurige Schlagzeilen gesorgt hat, als Flüchtlinge den Grenzzaun zu Marokko überwanden. Produktreste aus dem historischen Musterlager einer abgerissenen belgischen Porzellanmanufaktur werden in didaktischer Manier präsentiert wie archäologische Fundstücke. In dieser künstlerischen Haltung offenbart sich ein typisch europäisches Geschichtsbewusstsein, geprägt vom Wissen um die Eingebundenheit in eine Entwicklung. Doris Frohnapfel schafft energetische Räume aus Text, Fotografie und Plastik, Repräsentationen einer dynamischen Geschichte, offen für das kontinuierliche Werden der Gegenwart. Nicht nur, was gewesen ist, manifestiert sich in den Dingen und ist rekonstruierbar, auch jede zukünftige Beschaffenheit und Verfassung ist stets virtuell enthalten. Frohnapfels Werk schärft das skeptische Bewusstsein dafür, wie viele vergangene Zustände in einer augenblicklichen Erscheinung vorhanden und eventuell noch weiterhin wirksam sind. Was ist prima vista lesbar, was sollte gründlicher hinterfragt werden? Der Zusammenhang von Erinnerungsfähigkeit und Vorstellungsvermögen ist gesellschaftlich immer wieder relevant: Die Verdrängung, die Verweigerung, zu erinnern, behindert auch unsere Fähigkeit zur Imagination und zu positiven Visionen. Alle diese Themen behandelt Frohnapfel mit großer formaler Zurückhaltung. In erster Linie führt sie eine semantische Untersuchung fort, die in der Tradition des „linguistic turn“ in der Kunst von René Magritte, Marcel Broothaers oder Joseph Kosuth steht: Wo verläuft die Grenze zwischen Wort und Bild, was beschreibt ein Bild? Der Tractatus logico-philosophus jedenfalls endet mit der Empfehlung: „Wovon man nicht sprechen kann, soll man schweigen.“ – Doris Frohnapfel macht ein Foto davon, das etwas aussagt, worüber unbedingt zu reden ist.